Rede | Anerkennung der NS-Opfergruppen der damals sog. „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ 1. Lesung

5. April 2019

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92. Sitzung

TOP 21 Anerkennung der NS-Opfergruppen

Niemand saß zu Recht in einem Konzentrationslager. Niemand!

Die Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, die im KZ den schwarzen oder grünen Winkel tragen mussten, gehören bis heute zu den wenig beachteten Opfern des Nationalsozialismus. Auch 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist das Schicksal der Betroffenen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Als Verfolgte des Nationalsozialismus sind diese Opfergruppen offiziell nicht anerkannt.

 

Antrag „Anerkennung der NS-Opfergruppen der damals sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher““

Medienberichterstattung

 

Protokoll des Bundestags:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer im Deutschland von 1933 als sogenannter „Asozialer“ oder „Berufsverbrecher“ – wie es in der Sprache der Nationalsozialisten hieß – aktenkundig wurde, war im Visier der Verfolgungsbehörden. Es waren Obdachlose, Kleinkriminelle, renitente Fürsorgezöglinge, Frauen mit unehelichen Kindern, Oppositionelle, Streikende oder zum Beispiel Hamburger Swing Kids. Sie galten als gemeinschaftsfremd, arbeitsscheu, erblich minderwertig. Vor ihnen sollte die Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten im Sinne der rassischen Generalprävention geschützt werden. Diese Menschen wurden ausgeschlossen aus dem Kreis der Freien, lebenslänglich, sie wurden in Konzentrationslagern interniert und mit dem schwarzen oder grünen Winkel gebrandmarkt.

Die Behörden des NS-Unrechtsstaates nahmen dabei den Tod der Häftlinge jederzeit in Kauf. Etwa 16 000 Menschen wurden direkt nach Verbüßung einer Haftstrafe zur sogenannten unbefristeten Sicherungsverwahrung ins KZ gebracht – ohne richterlichen Beschluss, ohne Rechtsmittel und ohne Beistand. Das war ein Bruch der internationalen Prinzipien eines rechtmäßigen Freiheitsentzugs.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch 74 Jahre nach Kriegsende haben wir Deutsche immer noch Lücken in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Das betrifft den Holocaust, der in seiner monströsen Singularität zu Recht im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur steht. Das betrifft auch bislang vergessene Menschen wie die sogenannten „Asozialen“ und die sogenannten „Berufsverbrecher“, die als Opfer des Nationalsozialismus bis heute nicht anerkannt sind. Es ist richtig: Unter den Internierten, Gequälten und im KZ Ermordeten waren auch Kriminelle mit schweren Vorstrafen; zum Teil fungierten sie als Kapos und Funktionshäftlinge. Darf man sie rehabilitieren? Ich sage: Ja,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

man kann und man muss; denn egal, was sie getan haben, sie waren letztendlich Opfer des perfiden Systems der Konzentrationslager, und genau wie alle anderen Häftlinge waren sie der Willkür ihrer Häscher und der Folter, dem Hungertod und der Ermordung ausgesetzt. Niemand saß zu Recht in einem Konzentrationslager!

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Die Betroffenen waren auch nach ihrer Befreiung aus dem KZ stigmatisiert. Viele schwiegen über das, was ihnen angetan worden war, die meisten von ihnen aus Scham. So fehlt ihre Perspektive im Narrativ der Überlebenden bis heute, ihre Schicksale sind die Leerstellen im kollektiven deutschen Gedächtnis.

Meine Damen und Herren, im Koalitionsvertrag heißt es, dass „weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus“ anerkannt werden sollen. Dennoch zögert die Große Koalition seit über einem Jahr, genau das zu tun. Es ist heute an der Zeit, diese Gerechtigkeitslücke endlich zu schließen –

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

für die wenigen Überlebenden, für die Nachkommen der Betroffenen und für uns selbst; denn Lücken dieser Art im kollektiven Gedächtnis bleiben nicht ohne Folgen. Lassen Sie uns im Ausschuss noch einmal eine gemeinsame Anstrengung unternehmen für eine interfraktionelle Initiative zur Anerkennung dieser Opfergruppen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Stimmen Sie unserem Antrag zu!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erlauben Sie mir zum Schluss ein persönliches Wort: Vor circa vier Stunden hat der Nobelpreisträger Bob Dylan in Berlin ein Konzert gespielt. Ich hätte mir dieses Konzert gerne angehört; aber noch lieber habe ich mich auf diese Rede vorbereitet. Wenn Sie sich jetzt, nach diesem letzten Tagesordnungspunkt, nach Hause begeben, hören Sie sich vielleicht Bob Dylans „Chimes of Freedom“ an

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und kommen dann mit mir zu dem Schluss: Niemand saß zu Recht im KZ, und jedes nachgeschobene Aber klänge wie eine erneute Verhöhnung der Geschundenen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

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