Gastkommentar in der Neuen Züricher Zeitung

28. Juli 2021
Erinnern an den Holocaust gehört zu unserer Demokratie“ erschienen in der Neuen Züricher Zeitung, 07.07.2021
Für uns heute geht es darum, die Erinnerung wachzuhalten, um die Gefahr zu erkennen und sicherzugehen, dass gilt: «Nie wieder Auschwitz». Eine Replik auf Michael Wolffsohn.
«Vergangenes historisch artikulieren heisst (. . .), sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt», schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk. Für uns heute geht es darum, die Erinnerung wachzuhalten, um die Gefahr zu erkennen und sicherzugehen, dass gilt: «Nie wieder Auschwitz». «Das Gedenken an den Holocaust ist grundlegend für die Demokratie in Deutschland. (. . .) Es kann keinen Schlussstrich geben», heisst es im Grundsatzprogramm von Bündnis 90 / Die Grünen. Erinnerungskultur ist «eine grundlegende Voraussetzung für den Schutz unserer Demokratie (. . .). Der Nationalsozialismus muss weiter konsequent aufgearbeitet werden», so steht es in unserem Wahlprogramm.

Im Beschluss meiner Fraktion mit dem Titel «Geschichten der Vielfalt. Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft» findet sich der Satz: «Die Shoah ist und bleibt der zentrale Bezugspunkt der Erinnerungskultur in Deutschland.» Und dann ist da noch der aktuelle Antrag: «Jüdisches Leben in Deutschland sichtbar machen, stärken und schützen». Trotzdem leitet Michael Wolffsohn (NZZ, 21. 6. 21) aus dem Wahlprogramm ab, die Grünen würden eine «Erinnerungsrevolution» anstreben. «Als käme hier der ‹Holocaust-Schlussstrich›», schreibt Wolffsohn, der die Grünen damit gleich noch in die Nähe von Alexander Gaulands «Vogelschiss» rücken möchte. Dies ist eine Unterstellung.

Das Ganze ist umso ärgerlicher, als gerade von rechts gefordert wird, den angeblichen «Schuldkult» zu beenden! Gleichzeitig werden Jüdinnen und Juden in Deutschland vermehrt bedroht. Antisemitismus ist wieder real, oder muss man sagen: immer noch? Halle steht hierfür als Chiffre. Sich der Erinnerung zu bemächtigen, heisst für uns deshalb auch, Lücken in der Aufarbeitung zu schliessen und Kontinuitäten aufzuzeigen. Es geht um die Menschheitsverbrechen in Auschwitz wie im Warschauer Ghetto, es geht um Zivilisationsbrüche in der Medizinethik wie im deutschen Vernichtungskrieg.

Die Washingtoner Prinzipien waren der Versuch, über nichtbindende Grundsätze zur Lösung von Restitutionsfragen beizutragen. Tatsächlich klagen Anwälte der Opfer von Raubkunst über massive Schwierigkeiten von deutscher Seite. Die als Schlichtungsstelle ins Leben gerufene Beratende Kommission war bis 2019 in sage und schreibe 15 Fälle eingebunden: 15 Fälle in 15 Jahren. Das ist ein Armutszeugnis. Zuletzt, im Fall der Guarneri-Geige, zeigte sich deutlich: Diese Kommission ohne Befugnisse ist ein zahnloser Tiger! Das muss die nächste Bundesregierung endlich ändern.

Auschwitz ist unvergleichbar – diese Tatsache enthebt uns nicht der Verantwortung für deutsche Kolonialverbrechen. Hier eine Opferkonkurrenz zu konstruieren, ist zynisch. Auch hundert Jahre nach Ende der Kolonialzeit befindet sich Raubkunst aus Unrechtskontexten in hiesigen Museen und Archiven. Es lagern noch immer Gebeine hier, die zu rassistischen Forschungszwecken nach Deutschland gebracht und nie beerdigt wurden. Mit dem im Grundgesetz garantierten Schutz der Menschenwürde, der auch für Tote gilt, ist das nicht vereinbar. Hier zeigt sich ein erschreckender Mangel an Geschichtsbewusstsein und Empathie.

Wie der Soziologe Nathan Sznaider schreibt: «Mitgefühl stützt sich auf die Erinnerung an historische oder fiktive Ereignisse, die davon erzählen, was passiert, wenn Mitgefühl ausgesetzt wird.» Dieses Aussetzen von Mitgefühl darf nie wieder geschehen in unserem Land! Das ist es, worum es uns geht.

Newsletter